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Jenke Nordalm
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Hippocampus. Über das Erinnern

Schauspiel Stuttgart, Theater im Depot, im Rahmen des Memo-X-Festivals vom 08.-18.03.2007.



Konzept und Realisation: Jenke Nordalm, Birgit Stoessel, Frederik Zeugke.



Grundanliegen des Projektes ist eine Installation zum Thema Erinnerung, die das Festival schon im öffentlichen Raum präsentiert und für den kontinuierlichen Festivalrahmen sorgt. Entstanden ist ein X auf der Ostenddrehscheibe vor dem Theater im Depot.

Luis Buñuel: Man muss erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, und sei es nur stückweise, um sich darüber klar zu werden, dass das Gedächtnis unser ganzes Leben ist. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben ... Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts...

Es gilt, durch Teile seines eigenen Bewusstseins zu spazieren und sich mit dem Vorgang des Erinnerns auseinander zu setzen. Einige Räume sind Hirnarealen gewidmet, die der Erinnerung zuarbeiten, andere spielen mit den Erinnerungen des Besuchers. Die Fähigkeit, sich zu erinnern, ist eine Grundvoraussetzung für das Überleben. Nur mit Hilfe der Erinnerung können wir Ereignisse reflektieren, einordnen, sie befähigt uns zum Handeln. Wir leben, erleben und interagieren aufgrund eines bestimmten Erfahrungshintergrunds.

Das prozeduale Gedächtnis speichert Fertigkeiten, Erwartungen, Verhaltensweisen und die Ergebnisse von Konditionierungsvorgängen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ohne Einschaltung des Bewusstseins das Verhalten beeinflussen können. Das prozeduale Gedächtnis speichert auch emotional angefärbte Gedächtnisinhalte. Das deklarative Gedächtnis, auch Wissensgedächtnis oder explizites Gedächtnis, speichert Tatsachen und Ereignisse, die bewusst wiedergegeben werden können. Man unterteilt das deklarative Gedächtnis in zwei Bereiche:
1. Im episodischen Gedächtnis finden sich Episoden, Ereignisse und Tatsachen aus dem eigenen Leben.
2. Das semantische Gedächtnis enthält das Weltwissen, von der Person unabhängige, allgemeine Fakten.

Das Langzeitgedächtnis ist das dauerhafte Speichersystem des Gehirns. Man kann folgende vier Prozesse des Langzeitgedächtnisses unterscheiden:
Lernen/Enkodierung: Neues Einspeichern von Informationen
Konsolidierung/Behalten: Bewahren von wichtigen Informationen durch regelmäßigen Abruf
Erinnern/Abruf: Reproduktion oder Rekonstruktion von Gedächtnisinhalten
Vergessen: Zerfall von Gedächtnisspuren oder Interferenzen durch konkurrierende Informationen

Medizinisch bewiesen sind Zentren, die für Sprache, Motorik, Sehen, Hören zuständig sind. Das Gedächtnis dagegen ist grundsätzlich eine zusätzliche Leistung weiter Teile des Gehirns. Die Wissenschaft kann bislang nur ungefähr verschiedene anatomische Strukturen unterscheiden, die für das Erinnerungsvermögen notwendig sind. Diese zitieren wir mit einem Augenzwinkern und wenden sie auf unser Memo X Gedächtnismodell an.

Im Hippocampus fließen Informationen verschiedener sensorischer Systeme zusammen, die verarbeitet und von dort zum Kortex zurückgesandt werden. Damit ist er wichtig für die Gedächtniskonsolidierung, die Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. Der Hippocampus ist also für die Koordinierung der verschiedenen Gedächtnisinhalte verantwortlich. Erst seit den 1990er Jahren konnte gezeigt werden, dass im Hippocampus zeitlebens neue Nervenzellen gebildet werden. Viele Transmitter, Wachstumfaktoren, Pharmaka, Drogen und Umweltfaktoren (darunter auch Lerntraining) können die Neurogenese beeinflussen. Menschen, deren Hippocampi entfernt oder zerstört wurden, können keine neuen Erinnerungen formen. Alte Erinnerungen blieben jedoch meist erhalten. Der Hippocampus wird somit als Struktur gesehen, die Erinnerungen generiert, während die Gedächtnisinhalte an verschiedenen anderen Stellen der Großhirnrinde gespeichert werden.

HIPPOCAMPUS- begehbare Räume des Gehirns, Abteilung Gedächtnis

1. “Riechkolben“ und „Inselrinde“ Töpfe und Töne der Kindheit

Die Besucher betreten eine Küche. Sie können in Töpfe riechen oder in Schränke, dort gibt es die Gerüche der Kindheit: Erde, Altes Papier, Frisches Brot, Kleber, Harz, Chlor. Der Olfaktorische Cortex (Riechkolben) dient der Wahrnehmung und Verarbeitung von Gerüchen. Er ist stammesgeschichtlich einer der ältesten Hirnregionen. Er ist der ursprünglichste Teil des Erinnerungszentrums.
Im hinteren Teil des Raumes befindet sich eine Sitzecke, Modell „Inselrinde“. Aus der Wandvertäfelung können die Besucher über Hörrohre, Hörner, Trichter oder Telefonhörer verschiedene Einspielungen hören. Die funktionellen Aufgaben der Inselrinde sind noch nicht gänzlich erforscht. Es wird angenommen, dass sie u.a. als assoziatives Zentrum für akustisches Denken fungiert. Wir beabsichtigen, durch akustische Reize, Suggestivfragen und Erinnerungsstatements erinnerbare Emotionen der Besucher zu reaktivieren.
Dieser Raum ist eine Hommage an das episodische Gedächtnis des Besuchers.

2.“Graue Zelle“ Überlieferung

In einer 50er-Jahre-Wohnzimmersituation erzählen Menschen von ihren Erinnerungen an den alten Stuttgarter Osten. Live werden einige Experten von Besonderheiten des Ostens erzählen und zu befragen sein, per Videoaufzeichnungen kann der Besucher an Erinnerungen älterer Ost-Bewohner teilhaben. Erzählte Geschichte wird so Teil des semantischen Gedächtnisses. D. h. der Besucher befindet sich an der Schnittstelle von semantischem und episodischem Gedächtnis. In der „Oral History“, der mündlichen Überlieferung wandelt sich die episodische Erinnerung des Erzählenden in die semantische Erinnerung des Zuhörers.

3. “Mandelkern“ Albtraum. Videoinstallation von Manni Meihöfer

Die Amygdala (Mandelkern) erfüllt Funktionen bei der emotionalen Bewertung von neuronalen Informationen. Die elektrische Reizung der Amygdala ruft bei Mensch und Tier emotionale und vegetative Reaktionen hervor (Pupillenerweiterung, Änderung der Herz- und Atemfrequenz, Speichel- und Magensaftsekretion etc.). Fehlfunktionen der Amygdala werden beim Menschen mit psychiatrischen Störungen in Zusammenhang gebracht. Als ein Versuch der prozedualen Erinnerung kann Siegmund Freuds Traumdeutung, der „Königsweg in das Unbewußte“, gelten. Trotz willentlicher Anstrengung kann ein seelischer Inhalt nicht direkt bewusst gemacht werden; es bedarf hierzu des Handwerkszeugs der Psychoanalyse: die Methode der Freien Assoziation, etwa im Zusammenhang mit der Traumdeutung. Nach Freud ist das Unbewusste des erwachsenen Menschen ein System, das vor allem aus Verdrängtem, d.h. dem Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglichen weil vorbewußt "abgewehrten" Inhalten besteht, und das einer eigenen Gesetzmäßigkeit unterliegt.

4. „ Amnestischer Block“ Vom Vergessen

In einem ersten Raum zeigt ein Wandfries Mnemosyne, die Erinnerung, Mutter der 9 Musen und ihre Kinder. Zu ihren Füßen die Reliquien der Erinnerung in Vitrinen; der Knoten im Taschentuch, die Eselsbrücke, den Schlussstrich, der Schwamm drüber, den Schnee von Gestern, der Hahn, der nicht mehr danach kräht, die Schuppen von den Augen...
Ein zweiter Raum ist vergessenen und vergessenden Menschen gewidmet. Vier Monitore sind in vier Ecken des abgeteilten Raumes installiert, der Boden ist ausgelegt mit Fotos aus Stuttgarter Wohnungsauflösungen. Verschiedene Erkrankungen können zu einer Veränderung des Hippocampus führen. Allen voran können Abbauprozesse bei Demenzerkrankungen diese Hirnstruktur schädigen.